DYNAMIC: Neues Tool zur klinischen Entscheidungshilfe reduziert Antibiotikaverschreibungen bei Kindern um das Vierfache

14.06.2021

Anhand einer in Tansania und Ruanda durchgeführten Pilotstudie konnte nachgewiesen werden, dass die Verwendung von Algorithmen zur klinischen Entscheidungshilfe die medizinische Versorgung erkrankter Kinder verbessert. Diese Algorithmen, entwickelt von medizinischen Experten auf einer innovativen digitalen Plattform, genannt medAL-creator, könnten Millionen unnötiger Antibiotikaverschreibungen in Afrika und potenziell später auch in Europa verhüten. Die Studie wird vom Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH) und dem Zentrum für Allgemeine Innere Medizin und Public Health (Unisanté) in Zusammenarbeit mit weiteren Forschungspartnern vor Ort durchgeführt.

Joseph Hbakurama, ein Forschungspfleger aus dem Bweyeye Health Center (Ruanda), stellt einer an der Teilnahme interessierten Mutter die DYNAMIC-Studie vor. ©Ludovico Cobuccio

Insbesondere in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen sterben pro Jahr schätzungsweise 3,3 Millionen Kinder an akuten Fiebererkrankungen. Hauptgrund hierfür ist ein Mangel an Diagnosetools und klinischen Richtlinien für das Gesundheitspersonal vor Ort. Infolgedessen bekommen 6 von 10 Kindern in Grundversorgungseinrichtungen in Tansania und Ruanda Antibiotika verschrieben, während nur 2 von 10 Kindern diese tatsächlich benötigen. Im Schnitt erhalten Kinder in den ersten fünf Lebensjahren 25 Antibiotikabehandlungen.

Die unangemessene Verwendung von Antibiotika ist der Hauptgrund für Antibiotikaresistenzen, welche laut der Weltgesundheitsorganisation eine der grössten globalen Bedrohungen für die öffentliche Gesundheit darstellen. Bei einem Ausbruch sind kleine Kinder die ersten Opfer resistenter Infektionen, für welche die Erstbehandlung mit Antibiotika nicht mehr funktioniert. Diese Resistenz ist wiederum eine der Ursachen für die hohe Kindersterblichkeitsrate.

Um dieses Problem anzugehen, wurde das DYNAMIC-Projekt ins Leben gerufen. Durch die Anwendung von Algorithmen zur klinischen Entscheidungshilfe und Point-of-Care-Tests wird das Gesundheitspersonal bei der Behandlung erkrankter Kinder angeleitet und geschult, wodurch die medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen (0-14 Jahre) in ressourcenarmen Umgebungen verbessert wird.

DYNAMIC wird von der Fondation Botnar und der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) finanziert. Die Finanzierung in Höhe von CHF 10 Millionen über 5 Jahre wird es Unisanté und dem Swiss TPH ermöglichen, in Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL), dem Ifakara Health Institute (IHI), dem National Institute for Medical Research (NIMR), dem Rwanda Biomedical Centre (RBC) und den Gesundheitsbehörden dieser Länder, neue Algorithmen zur klinischen Entscheidungshilfe zu entwickeln und zu validieren, um sie dann grossflächig einzusetzen.

Pilotstudie mit fast 500 Kindern: Eine Erfolgsgeschichte

Die klinischen Algorithmen, genannt ePOCT+, leiten die Klinikärzte durch die Verwendung einer Tablet-basierten App an, ob sie Antibiotika verschreiben sollen oder nicht. Im März 2021 wurde das neue Tool im Rahmen einer Pilotstudie mit 474 Kindern und Jugendlichen in Tansania und Ruanda getestet. Der Einsatz von ePOCT+ führte dazu, dass die Verschreibungen von 70 Prozent in Ruanda und 63 Prozent in Tansania auf 13 bzw. 19 Prozent sanken. Es handelte sich hierbei um die erste praktische Anwendung des Tools.

«Das von uns entwickelte Tool hatte einen starken Effekt auf den Schutz von Kindern vor unnötigen Antibiotika, auch unter realen Bedingungen in Gesundheitseinrichtungen», sagt Honorati Masanja, Direktor des Ifakara Health Institute und Projektleiter in Tansania. «Wir werden nun seine Wirkung weiter evaluieren, um den Gesundheitsbehörden relevante Informationen im Hinblick auf eine mögliche nationale Ausweitung zur Verfügung zu stellen.»

ePOCT+: die dritte Generation der innovativen Algorithmen

Auf Grundlage der Erfahrungen mit zwei Vorläufern wurden mit ePOCT+ die klinischen Inhalte von Kleinkindern bis hin zu Jugendlichen ausgeweitet, sodass Kliniker die Algorithmen nun auf alle pädiatrischen Fälle in medizinischen Grundversorgungseinrichtungen anwenden können. Sie werden angeleitet, welche zusätzlichen Symptome, Anzeichen und Tests während der Untersuchung für die korrekte Diagnose und Behandlung evaluiert werden müssen. Kliniker haben ePOCT+ sehr begrüsst – aus ihrer Sicht ist das Tool einfach zu nutzen, hilfreich beim Ausbau der eigenen Kenntnisse und eine Stütze bei der Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Kindern.

 «Das DYNAMIC-Projekt zeigt, welche Vorteile die sogenannte umgekehrte Innovation bietet», sagt Valérie D'Acremont von Unisanté und Swiss TPH, die das Projekt leitet. «Was wir im Süden machen, liefert Erfahrungen, von denen Länder im Norden wie die Schweiz profitieren können. Wir sehen das bereits bei den Tools CoronaCheck und CoronaVax, die wir zur Bewältigung der COVID-19-Krise entwickelt haben. Die afrikanischen Gesundheitssysteme sind im Vergleich zum Schweizer System neu und daher agiler und flexibler.»

Ein innovatives Tool für die öffentliche Gesundheit

«Der Erfolg von ePOCT+ zeigt, dass digitale innovative Tools dazu beitragen können, die Verschreibung von Antibiotika zu verbessern und die Entwicklung von Antibiotikaresistenzen auf individueller und Bevölkerungsebene einzudämmen», sagt Kaspar Wyss, stellvertretender Direktor des Swiss TPH. «Damit hat das Tool das Potenzial, zu besseren Gesundheitsergebnissen für Kinder in Afrika und künftig möglicherweise auch in Europa zu führen.» ePOCT+ wurde in enger Zusammenarbeit mit den Regierungen von Tansania und Ruanda sowie unter Einbezug des Endnutzer-Feedbacks der Klinikärzte vor Ort entwickelt. Zudem wurde es an die spezifischen Bedürfnisse des jeweiligen Landes angepasst. Als nächster Schritt im DYNAMIC-Projekt werden in einer klinische Studie über 2 Jahre in circa 80 Gesundheitszentren in Tansania und Ruanda die vorläufigen Erkenntnisse konsolidiert.

Revolutionierung klinischer Algorithmen

medAL-creator, die digitale Softwarelösung des DYNAMIC-Projekts, wurde anhand der spezifischen Fachkenntnisse des multidisziplinären Teams von Unisanté entwickelt. Es eröffnet den medizinischen Sachverständigen vor Ort die Möglichkeit, auch ohne IT-Entwicklerfähigkeiten klinische Algorithmen schnell zu erstellen und zu modifizieren. Die verwendeten Maschinenlernmodelle machen datengestützte und klinisch validierte Vorschläge für Algorithmen, welche dann sehr schnell integriert werden können – und mit dieser Dynamik macht das Projekt seinem Namen alle Ehre.

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie alle aktuellen Nachrichten aus der Forschung und über unsere Projekte, Kurse und Veranstaltungen.