Gefängnisse beschleunigen die Ausbreitung von multiresistenter Tuberkulose in Georgien

04.05.2021

Von den jährlich weltweit 1.4 Millionen Opfer der Tuberkulose sind nur rund 3% auf einen multiresistenten Stamm zurückzuführen. Nicht so in Georgien. Wissenschaftler des Swiss TPH zeigten: 63% von multiresistenter Tuberkulose in Georgien werden von Mensch zu Mensch übertragen. Dabei spielen die Gefängnisse als Übertragungsherde eine Schlüsselrolle. Die Resultate wurden gestern in der renommierten Fachzeitschrift Nature Medicine veröffentlicht.

Der Erreger der Tuberkulose (TB), das «Mycobacterium tuberculosis» ist ein Verwandlungskünstler. Um die Wirkung von Antibiotika zu umgehen, ändert er seine biologischen Eigenschaften und entwickelt sogenannte Multiresistenzen. Diese Anpassungsfähigkeit des Erregers geht auf Kosten seiner Virulenz. Multiresistente TB-Stämme – so die gängige Lehrmeinung - haben eine geringere Übertragungsfähigkeit als nicht-resistente Stämme. Doch Laborstudien und mathematische Modelle haben jüngst gezeigt: Um diese geringere Übertragungsfähigkeit zu kompensieren, machen die multiresistenten Keime eine zweite, sogenannte Kompensationsmutation durch. Dank dieser haben sie ihre einstige Virulenz wiedererlangt.

Gefängnisse als Übertragungsherde

Was die Modelle voraussagten, wurde nun in Georgien zum ersten Mal empirisch bewiesen. Eine Studie um den Swiss TPH-Wissenschaftler Sébastien Gagneux zeigt: Nicht nur ist die Zahl der multiresistenten TB-Fälle in Georgien viel höher als in anderen Ländern. Die multiresistenten Stämme werden auch direkt von Mensch zu Mensch übertragen. Dabei spielen in Georgien die Gefängnisse als Übertragungsherde eine herausragende Rolle. «Die Chance, im Gefängnis an einer multiresistenten Tuberkulose zu erkranken, ist 100x höher als für einen Menschen, der sein Leben ausserhalb der Gefängnismauern fristet», erklärt Gagneux. Die Gefängnisse in Georgien sind oft überbelegt, die Räume ungenügend gelüftet, die medizinische Versorgung mangelhaft. Ideale Bedingungen, sich mit multiresistenter Tuberkulose anzustecken.

Ein zentrales Public Health Problem

Doch das Problem der Übertragung von multiresistenter Tuberkulose in Georgien bleibt nicht auf Gefängnisse beschränkt. Irgendwann öffnen sich die Gefängnistore für die meisten Insassen. Sie gehen zurück zu ihren Familien und auf Stellensuche, reaktivieren verblasste Freundschaften und knüpfen neue. Und tragen den TB-Erreger weiter. Mindestens 30% aller Fälle von multiresistenter Tuberkulose in Georgien hänge mit einem Gefängnisaufenthalt zusammen, schreiben die Autoren. Das seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion marode Gesundheitssystem Georgiens und anderer ex-Sowjetrepubliken sind ausserstande, die Verbreitung der Infektionskrankheit zu kontrollieren.

Für ihre Studie sequenzierten Sébastien Gagneux und sein Team zwischen 2011 und 2016 die multiresistenten Tuberkulose-Stämme aller Patienten in Georgien inklusive aller Gefängnisinsassen. Dabei verglichen sie die die Virulenz multiresistenter Stämme, die eine Kompensationsmutation durchgemacht hatten, mit jenen ohne Kompensationsmutation. Dabei zeigte sich eine um 30% höhere Virulenz bei Erregern mit einer solchen Kompensationsmutation. Zusätzlich beobachteten sie, dass die Erreger von Gefängnisinsassen besonders oft Kompensationsmutation hatten. Die Resultate dieser Studie zeigen also, dass die Gefängnisse nicht nur die Übertragung multiresistenter Tuberkulose-Stämme fördern, sondern dass diese besondere Umgebung auch zu einer erhöhten Virulenz dieser multiresistenten Erreger führen kann.

Tuberkulose: Auch in der Schweiz auf dem Vormarsch

Die tödliche Infektionskrankheit macht auch vor der Schweiz nicht halt. Begünstigt durch die globale Migration steigen seit 2007 auch hierzulande die TB-Fälle. 2016 wurde in der Schweiz bei acht jungen Migrantinnen und Migranten eine multiresistente Tuberkulose diagnostiziert. Überraschend dabei: Obwohl sich die Migranten persönlich nicht kannten, waren sie alle mit demselben Erregerstamm infiziert. Nachforschungen des Swiss TPH machten deutlich, dass sich die Migranten während ihrer Odyssee nach Europa im Flüchtlingscamp Bani Walid im Norden Libyens mit dem multiresistenten Keim angesteckt haben mussten.

Trotz dieser beunruhigenden Entwicklungen und der Tatsache, dass die TB weltweit mehr Menschenleben fordert als Malaria und HIV/Aids zusammen, fliessen vergleichsweise wenige Gelder in die Entwicklung neuer Wirkstoffe gegen die Infektionskrankheit. Zwar wurden in den letzten Jahren drei neue Antibiotika zur Behandlung von multiresistenter Tuberkulose zugelassen. Doch sind bereits neue Resistenzen gegen diese neue Medikamenten-Generation nachgewiesen. «Der Kampf gegen die multiresistente Tuberkulose ist ein konstanter Wettlauf gegen die Zeit», meint deshalb Sébastien Gagneux.

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