Die zunehmende Belastung durch chronische Krankheiten – bedingt durch eine alternde Bevölkerung und zunehmende Ungleichheiten – erfordert einen grundlegenden Wandel in der Versorgung. Eine bessere Verknüpfung von Gesundheits- und Sozialsystemen bietet grosses Potenzial – doch wie kann dies gelingen? Beim heutigen Symposium am Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH) zum Thema «Integrated People-Centred Care» diskutierten über 80 Fachleute aus Gesundheits- und Sozialwesen, Verwaltung, Forschung und Privatwirtschaft. Sie stellten innovative Modelle im Management chronischer Krankheiten vor, beleuchteten digitale Lösungen zur besseren Versorgungskoordination und teilten Erfahrungen von Patient*innen und Leistungserbringenden aus der Schweiz sowie aus dem internationalen Kontext.

Die Diskussionsteilnehmenden sprachen über die Erfahrungen von Patient*innen. Photo: Joachim Pelikan, Swiss TPH
Chronische Krankheiten sind weltweit die häufigste Ursache für gesundheitliche Beeinträchtigungen und Todesfälle. Sie umfassen ein breites Spektrum, das von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes über muskuloskelettale Erkrankungen (wie Rheuma) bis hin zu genetisch bedingten Erkrankungen (wie Sichelzellanämie) und psychischen Erkrankungen reicht. Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen haben oft komplexe Bedürfnisse, die eine langfristige oder sogar lebenslange Betreuung und Pflege erfordern. Dies macht eine enge Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen und Ärzten, Pflegepersonal, Sozialdiensten, Angehörigen und weiteren Partner*innen unerlässlich.
«Integrierte, patientenzentrierte Versorgung verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, der auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten zugeschnitten ist und Brücken zwischen den verschiedenen Akteuren schlägt», sagte Jana Gerold, Projektleiterin am Swiss TPH und Mitglied des Organisationskomitees. «Mit dem heutigen Symposium bringen wir Fachleute aus Forschung, Gesundheitswesen, öffentlichem und privatem Sektor sowie Patientenvertretungen zusammen, um den Austausch zu fördern und Ansätze über Sektoren, Disziplinen und Länder hinweg besser aufeinander abzustimmen.»
Digitale Innovationen und politische Reformen
Die Teilnehmenden teilten Erfahrungen aus lokalen, nationalen und internationalen Kontexten – von kantonalen Initiativen zur besseren Versorgungskoordination bis hin zu innovativen und systemstärkenden Projekten in Ländern wie Brasilien, Kosovo, Moldau, Tansania und der Ukraine. Es wurde betont, dass die einzelnen Systeme besser verknüpft werden müssen und dass Patient*innen sowie Leistungserbringende stärker in die Gestaltung der künftigen Versorgung eingebunden werden sollten.
«Eine der zentralen Herausforderungen ist der Mangel an Daten zur patientenzentrierten Versorgung. Dabei ist Patientenzentrierung entscheidend, damit Gesundheitssysteme auf die tatsächlichen Bedürfnisse, Werte und Präferenzen der Menschen ausgerichtet sind – und sie leistet letztlich einen wichtigen Beitrag zur Erreichung der universellen Gesundheitsversorgung», sagte João Breda von der Weltgesundheitsorganisation.
Mehrere Expert*innen bezeichneten digitale Innovationen als entscheidend für eine verbesserte Koordination und Versorgung. Andere betonten die Notwendigkeit politischer Reformen, um Silos aufzubrechen, klinische Leitlinien festzulegen und Prävention zu priorisieren – mit dem Ziel, die Zahl der Menschen, die überhaupt an chronischen Krankheiten erkranken, zu verringern.
Die Rolle des Swiss TPH in der integrierten Versorgung
Ein Beispiel für ein innovatives Modell aus der Praxis ist das «Réseau de l’Arc». Es ist das erste integrierte Versorgungsmodell der Schweiz und wurde 2024 in der Region Jura lanciert. Es vereint Krankenversicherungen, Leistungserbringende und öffentliche Behörden, um die Zusammenarbeit zu stärken. Patient*innen profitieren von einer koordinierten Versorgung, welche Präventionsangebote, das Management chronischer Krankheiten und eine Gatekeeper-Funktion umfassen, die die Kontinuität über verschiedene Leistungserbringende hinweg sicherstellt. Das Swiss TPH führt gemeinsam mit dem Basel Center for Health Economics unabhängige Implementationsforschung zu Réseau de l’Arc durch. Durch die Evaluation der Auswirkungen auf Qualität, Zugang und Kosten der Versorgung liefern sie wissenschaftliche Evidenz dafür, wie integrierte Modelle die Zukunft des Schweizer Gesundheitswesens gestalten und politische Debatten über den Jura hinaus beeinflussen können.
Im Auftrag der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) setzt Swiss TPH zudem Projekte zur integrierten, patientenzentrierten Versorgung in Kosovo, Moldau und der Ukraine um.
Integrierte Versorgung: Patienten- und Gesundheitssystem-Perspektiven
Eine Podiumsdiskussion stellte die Perspektiven von Patient*innen in den Mittelpunkt und beleuchtete ihre Erfahrungen, Erwartungen und Bedürfnisse im Zusammenhang mit integrierter Versorgung. «Als Betroffene von Arthritis und Osteopenie habe ich erlebt, wie verschiedene Fachpersonen im selben Spital oft nicht zusammenarbeiten. Für Betroffene ist es am wichtigsten, dass die Behandlung koordiniert wird und dass sie gefragt werden, was ihnen wirklich wichtig ist», sagte Judith Safford von RheumaCura, einer Stiftung für patientenzentrierte Forschung im Bereich rheumatischer und muskuloskelettaler Erkrankungen.
Eine zweite Podiumsdiskussion diskutierte integrierte Versorgung aus der Perspektive der Gesundheitssysteme. «In Zeiten knapper Budgets müssen wir Prioritäten neu setzen und dort investieren, wo die Wirkung am grössten und am kosteneffizientesten ist. Die Unterstützung integrierter Gesundheitssysteme und die Stärkung der Primärversorgung sind zentral – zugleich müssen aber auch breitere Determinanten von Gesundheit wie Migration oder Ernährung berücksichtigt werden. Dafür braucht es einen systemischen Ansatz und eine Neuausrichtung der Gesundheitsfinanzierung, die noch allzu oft vertikal organisiert ist», sagte Erika Placella von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit.
Ein zentrales Ergebnis des Symposiums wird die Veröffentlichung eines «White Papers» sein, das die wichtigsten Erkenntnisse und Empfehlungen zusammenfasst. Dieses Dokument soll als Ressource für politische Entscheidungsträgerinnen und -träger, Praktikerinnen und Praktiker sowie Forschende in der Schweiz und international dienen und die Entwicklung von Strategien unterstützen, die den Menschen ins Zentrum der Versorgung stellen.
Ausstellung mit Geschichten von Patient*innen Im Rahmen des Symposiums wurde auch eine Ausstellung mit persönlichen Geschichten und Porträts von Menschen mit chronischen Krankheiten gezeigt: «Everyday Things: Life with a Chronic Condition». Sie präsentierte persönliche Gegenstände von Patient*innen und Betreuungspersonen aus Kosovo, Moldau, der Schweiz und der Ukraine. Von Insulinpens bis hin zu Familienfotos beleuchteten sie die oft übersehenen Schwierigkeiten, Anpassungen und die Widerstandsfähigkeit von Menschen, die mit chronischen Erkrankungen leben. Nach der Premiere beim Symposium wird die Ausstellung weiter ausgebaut und um Beiträge aus weiteren Ländern ergänzt. Sie soll zur Sensibilisierung und Bildung im Bereich der patientenzentrierten integrierten Versorgung beitragen.
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