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Schweizer Kohorte mit Biobank: Notwendige Basis für Public-Health-Forschung und grosse Langzeitstudien
20.06.2023 - Nicole Probst-Hensch

Wir leben in einer Zeit, in der Public-Health-Innovationen möglicherweise mehr zu Lebensverlängerung und Lebensqualität beitragen als medizinische Innovationen. Von dieser Idee lässt sich SAMW-Vorstandsmitglied Prof. Nicole Probst-Hensch, Professorin am Swiss Tropical and Public Health Institute (Swiss TPH), leiten. Im Schwerpunkt, der in Zusammenarbeit mit einem breit aufgestellten Team entstanden ist, zeigt sie auf, weshalb in der Schweiz finanzielle Ressourcen für Public-Health-Forschung und grosse Langzeitstudien mit Teilnehmenden aus der allgemeinen Bevölkerung nötig sind.

Public Health erforscht und fördert Umstände, um die Gesundheit ganzer Bevölkerungen zu schützen und zu verbessern. Klare Aussagen zu Krankheitsentstehung, zu Planung und Evaluation von Behandlungs-, Screening- und Präventionsmassnahmen sowie zu Kosteneffizienz und sozialer Gerechtigkeit erfordern gute Daten (siehe gesundheitsmanifest.ch). Forschende, Praxis, Verwaltung und Politik sind sich jedoch einig: Wir haben in der Schweiz grosse Datenlücken im Gesundheitsbereich. Insbesondere die Coronapandemie hat deutlich gemacht, dass ohne Daten kein evidenzbasiertes, vorausschauendes und effektives Planen und Handeln möglich sind.

Herausforderungen für Public Health im 21. Jahrhundert

Die Finanzierbarkeit unseres Gesundheitswesens stösst zunehmend an Grenzen. Es braucht also eine evidenzbasierte Balance zwischen den Vorteilen teurer Innovationen für hochselektionierte Patientengruppen und den breiten Gesundheitsbedürfnissen der Allgemeinheit. Es ist wichtig, dass a) medizinisch-technologische Innovationen nur auf den Markt kommen, wenn der nachhaltige Nutzen erwiesen ist und in einem vernünftigen Verhältnis zu den Kosten steht, und b) diese Innovationen Patientinnen und Patienten erreichen, unabhängig von sozialen Umständen.

Viele der folgenden Herausforderungen mit direkten oder indirekten Gesundheitsfolgen lassen sich nicht nur mittels medizinischer Interventionen oder innerhalb des Gesundheitswesens lösen: soziale Ungleichheiten; Klimawandel; Urbanisierung; digitale Transformation von Gesellschaft und Gesundheitssystem; medizinischer Fachkräftemangel; Bevölkerungswachstum und vorübergehend demographisches Altern; Migration; Globalisierungsrisiken wie antimikrobielle Resistenzen; Pandemien, Energieversorgung oder Ernährungssicherheit in Anbetracht geopolitischer Konflikte.

Wir leben also in einer Zeit, in der Public- Health-Innovationen möglicherweise mehr zu Lebensverlängerung und Lebensqualität beitragen als medizinische Innovationen. Es braucht deshalb finanzielle Ressourcen für Public-Health-Forschung und grosse Langzeitstudien mit Teilnehmenden aus der allgemeinen Bevölkerung.

Gesundes Aufwachsen und Altern in einer lebenswerten Umwelt fördern

Qualitativ hochstehende Langzeit-Beobachtungsstudien sind Labor- und Goldstandard der Epidemiologie. Sie erlauben zu erforschen, wie chronische Gesundheitsrisiken aus physischer und sozialer Umwelt (z. B. Chemikalien, Armut) oder im Lebensstil (z. B. Fehlernährung) nachhaltig auf unsere Moleküle, Enzyme, Zellen und Organe wirken und wie sie gesundes Aufwachsen und Altern beeinflussen. Dieses komplexe Zusammenspiel von Langzeitrisiken lässt sich nicht experimentell untersuchen – es braucht Bevölkerungskohorten.

Die moderne Kohortenforschung profitiert von modernen Technologien: Satellitendaten, Wearables, Sensoren, Apps, Omics-Analysen von Biomaterialien oder bildgebende Verfahren sind die Grundlage von Präzisionsoder Exposom-Epidemiologie. Sie erlauben die präzise Erfassung komplexer Expositionen und geben Einsicht in molekulare Fingerabdrücke, die Verhalten und Umwelt in unserem Körper hinterlassen. Es wird möglich, exogene und endogene Expositionsmuster mit detaillierten präklinischen Veränderungen im Körper zu korrelieren und so ein vertieftes kausales Verständnis der Krankheitsentstehung zu gewinnen.

Kohorten mit Biobanken: erfolgreiche Schweizer Beispiele

Kohorten mit Biobanken sind ein wichtiges Instrument zur Beurteilung des langfristigen und sozial gerechten Zugangs oder Nutzens von a) gesundheitsrelevanten politischen Massnahmen im Gesundheitswesen (z. B. Screening-Programme) und in anderen Bereichen (z. B. Stadtplanung), b) Behandlungsrichtlinien (z. B. personalisierte Therapien) oder c) medizinischen Innnovationen (z. B. molekulare Biomarker oder bildgebende Algorithmen für die Früherkennung von Krankheiten).

Das Kohorten-Programm Corona Immunitas der Public-Health-Gemeinschaft untersucht den kurz- und langfristigen Einfluss der Covid- 19-Pandemie auf SARS-CoV-2-Ansteckungen, Seroprävalenz, Impfakzeptanz und psychische Gesundheit. Die gesamtschweizerische SAPALDIA Kohorte & Biobank förderte mit Daten zu Luftverschmutzung und Lungengesundheit die evidenzbasierte Luftreinhaltung in der Schweiz und zeigte, dass sich Investitionen positiv auf die Lungengesundheit der Bevölkerung auswirken und auszahlen. Die Lausanner CoLaus Kohorte entwickelte und validierte klinische Instrumente für Screening und Diagnose, wie Früherkennung von Schlafapnoe. Die Genfer BusSanté Kohorte evaluierte den kleinräumigen und damit auch Sozialschicht abhängigen Effekt von gesundheitsfördernden Programmen wie Mammographie- Screenings, Rauchverboten oder Ernährungsrichtlinien. Die GABRIEL oder PASTURE/EFRAIM Kohorten mit Schweizer Beteiligung veränderten dank Messung komplexer Expositionen im frühen Kindesalter die Allergieprävention nachhaltig.

Langzeitdaten für Forschende, Gesundheitsdienstleister, Bevölkerung und evidenzbasierte Politik

Viele Länder bauen grosse Bevölkerungskohorten mit Biobanken auf. Das Paradebeispiel ist die UK Biobank (ukbiobank.ac.uk). Eine halbe Million Teilnehmende spenden seit 2006 wiederholt biologische Proben und lassen sich detaillierten Gesundheitsuntersuchungen und Befragungen unterziehen. Die Vielfalt wissenschaftlich untersuchter Gesundheitsthemen reflektiert den breiten Datennutzen. Die Bedeutung einer existierenden Langzeitstudie zeigte sich in der Covid-19-Pandemie. UK-Biobank- Teilnehmende wurden vor und nach der Pandemie MRI-Untersuchungen des Hirns unterzogen. Der Vergleich von zeitlichen Veränderungen in verschiedenen Hirnarealen zwischen Personen mit und ohne durchgemachte SARS-CoV-19-Infektion erlaubt es, infektionsbedingte Veränderungen zu identifizieren.

Die Swiss School of Public Health, Public Health Schweiz und ihre Partner engagieren sich für eine Schweizer Kohorte & Biobank mit mindestens 100 000 Teilnehmenden aller Altersklassen und haben das White Paper «Swiss Cohort & Biobank» publiziert. Die Langzeitstudie ist ein wichtiger Pfeiler für bessere Gesundheitsdaten in der Schweiz. Sie ergänzt bestehende Forschungsinitiativen und -netzwerke, insbesondere das Swiss Personalized Health Network (SPHN). Die Kohorte soll in enger Zusammenarbeit mit diesen Netzwerken, mit der National Coordination Platform for Clinical Research (CPCR) und anderen Stakeholdern aus Forschung, medizinischer Praxis, Verwaltung und Politik geplant werden, damit die erhobenen Daten einen breiten Nutzen bringen. Daten und biologische Proben sollen gemäss FAIR-Prinzipien zugänglich sein und Infrastruktur, Prozesse und Protokolle bestehender Organisation wie SPHN oder Swiss Biobanking Platform (SBP) respektieren und nutzen.

Teile des Studienprotokolls sollen mit internationalen Kohorten harmonisiert werden, denn viele der dringlichen Forschungsfragen lassen sich nur im Rahmen von Kohorten-Konsortien beantworten. Schweizer Forschende müssen künftig eigene Daten an diesen Big-Data-  Verhandlungstisch einbringen können, um als gleichberechtigte Partner zu agieren.

Gleich bedeutsam ist es, das Studienprotokoll mit bestehenden nationalen Datenerhebungen abzugleichen, damit spezifische Langzeitdatenbedürfnisse für evidenzbasierte Massnahmen in Medizin, Verwaltung und Politik in unserem Land bedient werden können – mit Daten aus der Schweiz für die Schweiz.

Solide Grundlagen vorhanden

Die Schweizer Public-Health-Community hat ihre Fähigkeit im Aufbau einer grossen Kohorte unter Beweis gestellt: Corona Immunitas umfasste mehr als 50 000 Studienteilnehmende und arbeitete mit 14 Universitäten und Gesundheitsorganisationen zusammen. Forschende Public-Health-Institutionen mit reicher Bevölkerungskohorten-Erfahrung pilotierten mit dem Bundesamt für Gesundheit eine Schweizerische Kohorte & Biobank. Unter der Leitung des Swiss TPH und der Universität Basel wurde das Forschungsinfrastruktur- Projekt Imaging and Omics Platform for Swiss Citizen Health (IOP4CH) entwickelt. Die Dachorganisation der Schweizer Hochschulen swissuniversities empfiehlt es als eines von acht Projekten zur Aufnahme in die BFI-Botschaft 2025 – 2028. Das Projekt soll in enger Zusammenarbeit mit Public Health und klinischen Partnern aus acht Universitäten, inklusive SSPH+, entwickelt und geleitet werden, um Schweizer Forschenden Referenzdaten zu biologischen Markern und zu MRI-Bildern zur Verfügung zu stellen und um gleichzeitig ein «Deep Phenotyping Hub» der geplanten Schweizer Kohorte & Biobank zu werden.