Druck

Allein im Jahr 2022 starben gemäss der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 4,9 Millionen Kinder unter fünf Jahren hauptsächlich an behandelbaren Krankheiten wie Lungenentzündung, Durchfall und Malaria. Mehr als 80 % dieser Todesfälle ereigneten sich in Afrika südlich der Sahara und in Südasien, wo der Zugang zu qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung nach wie vor begrenzt ist. Die Herausforderung liegt weniger in der Verfügbarkeit von Behandlungen, sondern vielmehr darin, sicherzustellen, dass diese die Kinder erreichen, die sie am dringendsten benötigen. Dazu muss das Gesundheitspersonal in der Lage sein, genaue Diagnosen zu stellen und fundierte Behandlungsentscheidungen zu treffen. Eine Fehldiagnose kann zu schweren Erkrankungen oder zum Tod führen, während eine Überdiagnose den übermässigen Einsatz von Antibiotika und antimikrobielle Resistenzen
begünstigt.

Genau hier setzen Clinical Decision Support Systems (CDSS) an, also Systeme zur Unterstützung der Entscheidungsfindung. CDSS sind digitale Tools, die das medizinische Personal bei der Diagnose und Behandlung von Kindern gemäss evidenzbasierten Leitlinien unterstützen. Durch die Integration von Patientendaten in medizinische Protokolle verbessern CDSS die diagnostische Genauigkeit, optimieren die Behandlung, reduzieren den unnötigen Einsatz von Antibiotika und liefern wertvolle Daten für die Planung im Gesundheitswesen. CDSS sind für die Primärversorgung konzipiert und sollen die klinische Beurteilung unterstützen – aber nicht ersetzen. Sie stellen das Gesundheitspersonal in den Mittelpunkt der Entscheidungsfindung und verbessern gleichzeitig die Qualität der Versorgung insgesamt.

Digitale Tools für eine smarte Versorgung 

Das Swiss TPH leistete Pionierarbeit bei der Entwicklung von CDSS und treibt wichtige Initiativen zur Verbesserung der Gesundheit von Kindern voran. Als Mitbegründer der CDSS Community of Practice entwickelt es Open-Source-Lösungen, unterstützt die SMART-Richtlinien der WHO – standardisierte, maschinenlesbare klinische Protokolle – und bietet Schulungen in digitaler Gesundheit und der Anwendung von CDSS an. Eines der Schlüsselprojekte ist ALMANACH (ALgorithm for the MANagement of CHildhood Illness), das vor mehr als 15 Jahren vom Swiss TPH entwickelt wurde, um Gesundheitsfachleute in der Primärversorgung Schritt für Schritt durch die WHO-Richtlinien für das integrierte Management von Kinderkrankheiten (IMCI) zu führen. ALMANACH wird laufend aktualisiert und verbessert, integriert neue Empfehlungen und kann an länderspezifische Bedürfnisse angepasst werden. In Zusammenarbeit mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und lokalen Gesundheitsbehörden wurde es in Afghanistan erprobt und in Nigeria, Somalia und zuletzt in Libyen eingeführt.

Die Ergebnisse sind vielversprechend: In Somalia zeigte eine Studie, dass die Verschreibungen von Antibiotika von 58,1 % auf nur 16 % zurück- gingen – bei Infektionen der oberen Atemwege sogar um den Faktor 30 –, während die Einhaltung der IMCI-Richtlinien deutlich zunahm. Eine Evaluation zur Wirksamkeit in Nigeria ergab, dass Kinder, die in ALMANACH-Einrichtungen behandelt wurden, signifikant häufiger innerhalb einer Woche (laut Angaben der Betreuungspersonen) genesen waren und von einer verbesserten Versorgungsqualität profitierten, etwa durch genauere Antibiotikaverschreibungen oder bessere Kommunikation. In Libyen wird das Instrument derzeit skaliert und an das Gesundheitsministerium übergeben, wo es sein Potenzial erneut unter Beweis stellen und einen Beitrag zur universellen Gesundheitsversorgung leisten kann.

Einsatz von Sauerstoffmessgeräten

Ein weiteres wirkungsvolles Projekt ist das von PATH geleitete Projekt “Tools for Integrated Management of Childhood Illness (TIMCI)”. Es verfolgte das Ziel, schwere Erkrankungen bei Kindern früher zu erkennen und besser zu behandeln – durch den Einsatz von Pulsoxymetrie und digitalen Entscheidungsalgorithmen in der Primärversorgung. Pulsoxymetrie ist eine kostengünstige, nicht-invasive Methode zur Erkennung von Hypoxämie, einem niedrigen Sauerstoffgehalt im Blut. Hypoxämie ist eng mit Morbidität und Mortalität bei Kindern verbunden, bleibt aber in ressourcenarmen Gegenden aufgrund fehlender diagnostischer Hilfsmittel oft unentdeckt. Im Rahmen von TIMCI wurde Gesundheitspersonal in Kenia, Senegal, Tansania und Indien mit Pulsoxymetern ausgestattet, um genauere Diagnosen und rechtzeitige Überweisungen zu ermöglichen. Das Swiss TPH leitet eine gross angelegte Wirkungsstudie, um die Wirksamkeit, Kosteneffizienz und Skalierbarkeit des Projekts zu evaluieren. Die Ergeb- nisse werden dazu beitragen, Leitlinien für die Integration dieser lebensrettenden Geräte in die Gesundheitssysteme weltweit zu entwickeln.

Kombinieren von CDSS mit Schnelltests

Eine weitere wichtige Initiative ist die DYNAMIC-Studie – ein digitales Gesundheitsprojekt unter der Leitung von Unisanté und Swiss TPH, das die Gesundheitsversorgung von Kindern verbessern und den verantwortungsvollen Einsatz von Antibiotika in Tansania und Ruanda fördern soll. Dabei wird ePOCT+, ein intelligenter Algorithmus zur klinischen Entscheidungsfindung, mit Schnelltests kombiniert, um Gesundheitspersonal bei der präzisen Diagnose und der Einhaltung von Behandlungsrichtlinien zu unterstützen. Studien in Gesundheitseinrichtungen, die ePOCT+ einsetzen, zeigen einen deutlichen Rückgang der Antibiotikaverschreibungen – von 70,1 % auf 23,2 % in Tansania und von 70,5 % auf 24,5 % in Ruanda – ohne negative Auswirkungen auf die Heilungsraten.

Die ursprünglich für Länder des Globalen Südens entwickelte Lösung wird nun im Rahmen eines umgekehrten Innovationsansatzes im Kanton Waadt eingeführt. Das Swiss TPH arbeitet zudem daran, die Funktionalität der Software zu erweitern und eine Open-Source-Community aufzubauen, indem es mehrere beitragende Organisationen koordiniert.

Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme führen das Gesundheitspersonal Schritt für Schritt durch die Untersuchung.
Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme führen das Gesundheitspersonal Schritt für Schritt durch die Untersuchung. (Foto: Magali Rochat)

Drei Ansätze, ein Ziel

Alle drei Projekte, ALMANACH, TIMCI und DYNAMIC, verbessern die Gesundheitsversorgung von Kindern durch digitale klinische Entscheidungshilfen. Ein entscheidender Vorteil dieser Projekte ist ihre Fähigkeit, Echtzeitdaten zu generieren, die die klinische Entscheidungsfindung verbessern und eine kontinuierliche Verfeinerung der Tools ermöglichen. Der stetige Informationsfluss unterstützt das Gesundheitspersonal bei der zeitgerechten und präzisen Versorgung und trägt gleichzeitig zur laufenden Optimierung der digitalen Tools bei, so werden die CDSS mit der Zeit immer intelligenter und die Gesundheitsversorgung nachhaltig verbessert.

Chancen und und Herausforderungen

Trotz ihres transformativen Potenzials sind CDSS keine Universallösung. Begrenzte Infrastruktur, Unterhaltskosten und der kontinuierliche Schulungsbedarf des Gesundheitspersonals stellen Herausforderungen dar. Für eine langfristige Übernahme ist es entscheidend, dass die Systeme mit bestehenden Gesundheitssystemen kompatibel sind und von den Nutzerinnen und Nutzern akzeptiert werden.

CDSS unterstützen die Entscheidungsfindung, ersetzen aber nicht das klinische Urteilsvermögen – das Gesundheitspersonal muss die Fähigkeit und das Selbstvertrauen haben, Daten zu interpretieren und fundierte Entscheidungen zu treffen. Starke Partnerschaften, Ausbildung und Begleitung sowie nachhaltige Investitionen können dabei helfen, diese Hürden zu überwinden und letztlich dazu beitragen die Überlebenschancen von Millionen von Kindern weltweit zu verbessern.