Ohne Daten gibt es keinen Fortschritt in der Forschung

Die Swiss Public Health Conference 2017 vom 22. und 23. November in Basel befasst sich mit dem Thema der personalisierten Gesundheit aus der Public-Health-Perspektive. Ein Gespräch mit Nicole Probst-Hensch* über die Chancen und Risiken der personalisierten Medizin, die richtige Balance zwischen Schutz und Zugang zu Personendaten und ihr Kredo als Forscherin.

Swiss TPH: Das Thema der personalisierten Gesundheit wird in der Öffentlichkeit rege diskutiert. Weshalb?

Nicole Probst-Hensch: Personalized-Health-Ansätze und personalisierte Medizin können gute Effekte für die Menschen haben, sie bergen aber auch gewisse Risiken. Wir fragen deshalb an der Tagung: Wie können wir die Methode der personalisierten Medizin nutzen, um die kausalen Risiken für Krankheiten besser zu verstehen? Was bringt diese Methode der epidemiologischen Forschung und welche Strukturen braucht sie? Wir fragen: Ist unsere Ärzteschaft vorbereitet, um personalisierte Therapien durchzuführen und werden diese Therapien auch in den Spitälern ausserhalb urbaner Zentren rechtzeitig eingesetzt?

Weiter befassen wir uns mit der Kostenfrage: Ein Versprechen der personalisierten Medizin ist ja, dass Medikamente billiger werden und die Gesundheitskosten senken, da sie auf den einzelnen Menschen ausgerichtet sind. Man kann jedoch geradeso gut zum Schluss kommen, dass auf das Individuum abgestimmte Medikamente ganz im Gegenteil die Gesundheitskosten in die Höhe treiben und auch soziale Ungleichheiten fördern, da sich nicht alle eine solche Behandlung leisten können – in einkommensschwachen Ländern ist die Zweiklassenmedizin eine Realität. Nehmen wir zum Beispiel neue Krebsmedikamente: Sie sind deshalb teuer, weil die Entwicklungskosten dieselben bleiben, auch wenn das Medikament nur bei einer Untergruppe von Erkrankungen eingesetzt wird. Es braucht deshalb Kosten-Nutzen-Analysen um zu überprüfen, ob diese teureren Medikamente tatsächlich  effizienter eingesetzt werden können und zwar dort, wo sie wirken und kaum Nebenwirkungen haben.

Uns interessiert auch die Frage, wie Methoden der personalisierten Gesundheit und neue Technologien konkret umgesetzt werden, zum Beispiel der Einsatz von Drohnen, um Medikamente in entlegene Gebiete zu bringen. Oder Stichwort personalisierte Ernährung: Können wir heute die Diät eines Menschen gezielt an seinen Stoffwechsel und sein genetisches Profil anpassen?

Zusammengefasst: An der Swiss Health Conference 2017 behandeln wir personalisierte Gesundheit unter dem Aspekt der Forschung bis zur Anwendung.

Sie schreiben auf der Konferenzwebseite: «Niemals zuvor standen uns umfassendere Daten aus zahlreicheren Quellen zur Verfügung, wodurch sich für die Gesundheitswissenschaften ganz neue Möglichkeiten ergeben.» Wo steht hier die Schweiz in Bezug auf diese für die Forschung zentralen, aber auch hoch sensiblen Big Data im internationalen Vergleich?

Als Epidemiologin und aus Sicht des Swiss TPH wollen wir mit Daten und Evidenz dazu beitragen, die  Krankheitsentstehung  zu verhindern, weil ihre Behandlung teuer ist. Das trifft vor allem für chronischen Krankheiten zu, die bekanntlich weltweit zunehmen. Wir wollen einen gesunden Lebensstil fördern, eine gesunde Umwelt, soziale Gerechtigkeit und ein gesundes Arbeitsumfeld. Wir wollen mit anderen Worten zum gesunden Altern beitragen. Die primäre Prävention und, wo sinnvoll, auch die Prävention mittels Früherkennung sind uns deshalb ein wichtiges Anliegen. Die wissenschaftliche Grundlage dafür schaffen wir mit Hilfe von Langzeitstudien im In- und Ausland. Nur sie ermöglichen es, biologische Abläufe im Körper, verschiedene Risiken wie zum Beispiel langes Sitzen oder Verkehrslärm, sowie Erkrankungsrisiken über eine längere Zeitspanne in klarer zeitlicher Abfolge zu untersuchen.

Können Sie dies erläutern?

Langzeitstudien mit Biobanken oder anderen detaillierten MRI-Daten sind eine unerlässliche Referenz zur Entwicklung von Algorithmen für die Früherkennung von Krankheiten. Ausserdem lassen sich mit bevölkerungs-repräsentativen Langzeitstudien Daten zum Funktionieren unseres Gesundheitswesens erheben, nämlich dann, wenn unter den Studienteilnehmenden auch Personen sind, die Krankheiten haben oder zu Patientinnen und Patienten werden. Erhalten wir von ihnen die Einwilligung, mit Ihren medizinischen Daten zu forschen, dann können wir auch Fragen nachgehen wie: Wie wird die personalisierte Medizin im realen Leben umgesetzt und wahrgenommen und welche Folgen hat sie für die Gesundheit in der Bevölkerung?

In der nationalen Langzeit-Kohorte «Sapaldia» zur Gesundheit der Bevölkerung in der Schweiz, die seit mehr als 25 Jahren vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert wird, konnten wir so zeigen, dass rund die Hälfte der Personen mit Bluthochdruck nicht von ihrer Erkrankung wusste, und dass die Kontrolle bei der Hälfte der Personen mit diagnostiziertem Bluthochdruck verbessert werden könnte.

Die Menge der Gesundheitsdaten in der «Sapaldia»-Studie hinken im Vergleich zum Ausland hinterher.

Bis jetzt schon. Die UK-Biobank sammelt die Gesundheitsdaten von 500'000 Personen, bei der Nationalen Kohorte in Deutschland sind es 200'000. Diese Studiengrösse  – diese Art von Big Data – braucht es eben einfach, um Krankheitsdiagnosen prospektiv zu erfassen und, um das komplexe Zusammenspiel verschiedenster Risiken störungsfrei zu untersuchen. Die «Sapaldia»-Studie arbeitete ursprünglich mit 10'000, heute noch 5'000 Personen. Diese Langzeitdaten zur Gesundheit der Bevölkerung in unserem Land bleiben unersetzbar und die Studienteilnehmenden müssen unbedingt weiterhin untersucht werden können.

Gleichzeitig braucht die Schweiz eine grosse Langzeitstudie mit Biobank, um für die Zukunft gewappnet zu sein und wettbewerbsfähig  zu bleiben. Ich bin zuversichtlich, dass diese kommen wird: Das Bundesamt für Gesundheit führt zur Zeit in Zusammenarbeit mit Epidemiologinnen und Epidemiologen vom Swiss TPH  in Basel und in Lausanne sowie mit der Schweizerischen Biobank Platform eine Pilotstudie für eine grosse nationale Kohorte durch, die künftig einen möglichst breiten Bedarf an Gesundheitsdaten abdecken soll. Wir sind also auf einem guten Weg, um weiterhin den wissenschaftlichen Nachwuchs in Epidemiologie und Public Health in unserem Land nachhaltig zu fördern – dieser ist auf solche Daten angewiesen.

Wie sehen Sie als Wissenschaftlerin die Gefahr des Missbrauchs von Gesundheitsdaten?

Das ist natürlich eine wichtige Frage, denn Gesundheitsdaten in dem Umfang, wie sie in Studien und auch in medizinischen Institutionen erhoben werden, sind hoch sensitiv. Es ist unsere Verantwortung und unsere rechtliche Pflicht als Forschende, einen Datenmissbrauch mit den uns zur Verfügung stehenden Technologien zu verhindern. Gleichzeitig dürfen wir uns nicht von der berechtigten Angst vor Missbrauch lähmen lassen. Wir müssen uns auch vor Augen führen, was es heissen würde, keine Daten zu haben: Ohne Daten gibt es keinen Fortschritt in der Forschung. Ohne Daten können wir die genomischen Erkenntnisse, die wir in den letzten Jahren weltweit mit viel Geld erworben haben, nicht in einen direkten medizinischen Nutzen für die Menschen umsetzen.

Gesundheitsdaten sind unerlässlich, um die Qualität und die Kosten unseres Gesundheitssystems zu überwachen. Ohne sie wissen wir nicht einmal, wie viele Leute in der Schweiz an Diabetes, Depressionen oder Bluthochdruck leiden. Es geht darum, die richtige Balance zwischen Datenschutz und Datenzugang zu finden.

Interview: Anna Wegelin, Leiterin Kommunikation Swiss TPH. Basel, November 2017

Nicole Probst-Hensch

Nicole Probst-Hensch

Professor, PhD (Pharmacy and Epidemiology), MPH

Leiterin Epidemiology and Public Health am Swiss TPH und wissenschaftliche Leiterin der Swiss Public Health Conference 2017. Sie ist Mitglied der Swiss School of Public Health.
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